Forschungspotential


 

Wenn ein Physiker oder ein Chemiker ein bestimmtes Phänomen seines Fachbereichs untersuchen will, so baut er sich ein entsprechendes Experiment auf. Er konzipiert es so, dass er besonders gute Untersuchungsbedingungen vorfindet.

Ein Biologe zum Beispiel kann so natürlich nicht vorgehen. Er kann sich nicht Lebewesen erschaffen, die besonders gute Forschungsbedingungen bieten. Er muss sich damit begnügen, sich aus den vorhandenen Lebewesen eines auszusuchen, dass sich für das Forschungsvorhaben besonders gut eignet.

Ähnlich ergeht es auch dem Namensforscher. Auch er kann sich keine Familiennamen erfinden, an denen sich bestimmte Fragestellungen besonders gut untersuchen lassen. Er muss mit dem vorliebnehmen, was er vorfindet.

Hier kommt es nun auf die Art der Fragestellung an. Je nachdem was man untersuchen will, bietet einmal der eine und ein andermal der andere Name gute Voraussetzungen.

Will man zum Beispiel wissen, seit wann es Familiennamen gibt, sind solche Namen, die immer unverändert überliefert wurden, ideale Kandidaten. Unterschiedliche Namensformen würden hier nur stören.

Andere Fragestellungen erfordern dagegen Namen, die problemsensitiv sind. Sie müssen es ermöglichen, klare Unterschiede zu erkennen, je nachdem welche Hypothese man aufgestellt hat. Sie müssen so beschaffen sein, dass Hypothesen falsifiziert werden können.

 

Es gibt eine Reihe von mehr oder weniger unbewussten Annahmen, die in die Familiennamenforschung hineinspielen.

Eine dieser Vorstellungen ist, dass von staatlicher Seite dafür gesorgt wurde, dass eine bestimmte Schreibweise eines Namens festgeschrieben wurde.

Eine andere vorgefasste Meinung kann sein, dass zwei Namen letztlich nur zwei Varianten ein und desselben Namens sind.

 

Um solche Fragen wissenschaftlich fundiert zu beantworten, muss man Familiennamen untersuchen, die auf besondere Weise problemsensitiv sind.

Solche Namen sind Namen mit hohem Fehlschreibpotential. Nur hier zeigen sich deutliche Unterschiede, wenn man mit verschiedenen Hypothesen an sie herangeht. Diese Unterschiede erlauben es dann, Hypothesen als falsch zu erkennen und zu eliminieren.

 

Beispielfall Booser Stamm

Der auf dieser Website behandelte Familienname besitzt das geforderte Fehlschreibpotential in besonderem Maß.

Mag man auch die große Anfälligkeit für Fehlschreibungen als Nachteil, als Hindernis für die Ahnen- und Familienforschung ansehen, so darf doch nicht übersehen werden, dass gerade darin ein unschätzbarer Vorteil liegt.

Unser Name mit seinen vier Hauptvarianten Cörper, Coerper, Körper und Koerper sowie seinen Nebenvarianten Corper, Korper, Kerper, Carper ist ideal dafür geeignet, Hypothesen zu testen, die man allenthalben in Texten zu diesem Thema versteckt findet.

So ist eine der bei Außenstehenden weitverbreiteten Meinungen, dass „Körper“ und „Körber“ lediglich zwei Varianten desselben Namens sind.

Bei genauerem Hinsehen stellt sich das klar als falsch heraus. Man muss dazu allerdings die Familiengruppen, jede für sich, als Ganzes in den Blick nehmen.

Nehmen wir den Booser Stamm als Paradebeispiel. Er ist die am besten erforschte Gruppe.

 

P oder B?

Ein auffallendes Merkmal dieser Gruppe ist die Tatsache, dass alle der mindestens 400 Familien, die es auf europäischer Seite gibt, ihren Namen mit einem P in der Mitte schreiben.

Das ist ein klares Forschungsergebnis, das von Außenstehenden vermutlich nicht erwartet wurde. Ein Forschungsergebnis, das nach einer Erklärung verlangt.

Wie konnte es kommen, dass sämtliche Familien dieser Gruppe ihren Namen mit P schreiben, obwohl doch die Quellenbelege auch die Schreibung mit B zeigen. Sollte man daraus nicht schließen, dass hinsichtlich des P oder B bei den Namensträgern Unsicherheit bestand?

Was wäre zu erwarten gewesen, wenn es diese Unsicherheit auf Seiten der Namensträger tatsächlich gegeben hätte?

Da man ja in der Gegenwart eine klare Vorstellung hat, wie der eigene Name richtig zu schreiben ist, hätte irgendwann in der Vergangenheit einer der Vorfahren für sich selbst eine klare Entscheidung treffen müssen, mit der Unsicherheit Schluss zu machen und ab dann nur noch eine der Formen als gültig anzusehen.

Wäre das tatsächlich so gewesen, dann wären in dieser Entscheidungssituation unterschiedliche Entscheidungen zustande gekommen. Die Einen hätten sich für die Schreibung mit P entschieden, die Anderen für B. Man würde folglich in der Gegenwart Familienzweige finden, die ihren Namen mit P, und solche, die ihren Namen mit B schreiben. Die findet man aber nicht. Vielmehr schreiben alle ihren Namen mit P.

Die einzig logische Erklärung für diese erstaunliche Uniformität besteht darin, dass es die angenommene Unsicherheit nie gab. Die Namensträger wussten immer, dass ihr Name mit P zu schreiben ist.

Dass man daneben auch die Schreibung mit B findet, ist der Tatsache zuzuschreiben, dass hier der Name von fremder Hand geschrieben wurde, von jemandem, der nach Gehör schrieb und sich nicht die Mühe machte, bei dem Namensträger nachzufragen.

Theoretisch gäbe es natürlich die Möglichkeit, dass diese erstaunliche Einheitlichkeit von außen erzwungen wurde. Aber wer hätte das erzwingen sollen? Wenn man hier den Staat als Urheber annehmen wollte: Die Verwaltung würde eine solche Vereinheitlichungsmaßnahme entweder für alle Familiennamen durchführen oder für keinen. Es ist undenkbar, dass das man nur für einen einzigen oder wenige Familiennamen machen würde. Und wozu einen solchen Aufwand treiben?

Außerdem hätte man für eine solche Aktion eine Verwaltungsvorschrift erstellt, die man heute in einem Archiv finden könnte.

Ein weiterer Einwand ist, dass die Namensträger sich im Lauf der Zeit über ein größeres Gebiet verteilten, auf Orte, die zu unterschiedlichen Staaten gehörten. Wer hätte da ein einheitliches Vorgehen organisieren sollen? Und wozu?

 

C oder K?

Eine weitere Besonderheit unseres Namens ist der unterschiedliche Anfangsbuchstabe: C oder K.

Auch hier könnte man Unsicherheit auf Seiten der Namensträger erwarten.

Aber auch in diesem Punkt zeigt sich das gleiche Bild wie bei der P/B-Frage.

Betrachtet man die Familiengruppe als Ganzes, so zeigt sich Ordnung und keineswegs ein beliebiges Durcheinander.

Beim Booser Stamm lässt sich klar nachweisen, dass in Boos immer die Schreibtradition „Cörper“ hochgehalten wurde. Der erste klare Nachweis ist die Unterschrift von Hans Wilhelm Cörper im Kirchenbuch von Weinsheim aus dem Jahr 1701. Dessen Neffe Johannes Cörper, der kurpfälzischer Schultheiß in Boos war, unterschrieb 1778 und 1779 „Johannes Cörper“.

Alle Belege aus der Zeit, wo es dann Standesämter gab, zeigen das gleiche Bild.

Erhalten hat sich diese alte Schreibtradition neben Boos nur im Nachbarort Duchroth.

Alle weiter weggezogenen Namensträger gingen zu einer geänderten Schreibung über. Beim Booser Stamm lässt sich diese Übergangszeit ziemlich genau auf den Beginn des 19. Jahrhunderts festlegen.

Die Schreibweise mit C hat sich nur beim Meisenheim/Hof Ibener Ast gehalten, alle anderen gingen zur Schreibung mit K über.

 

Ö oder OE?

Eine weitere Unterscheidung zeigt sich beim Umlaut: Ö/OE.

Die ursprüngliche Schreibung ist die mit Ö. Die Auflösung des Umlauts erfolgte in der Konfrontation mit einer Fremdsprache.

Im 19. Jahrhundert war es üblich, dass Auswanderer nach Amerika in der Regel das Ö durch OE ersetzten. Die Ausnahme, dass Ö durch O ersetzt wurde, habe ich allerdings auch gefunden.

Beim Meisenheim/Hof Ibener Ast war man nicht mit der englischen, sondern mit der französischen Sprache konfrontiert. Um 1810 begann man offenbar die Zugehörigkeit des linksrheinischen Gebiets zu Frankreich als dauerhaft zu akzeptieren. In Meisenheim übersetzte man daher Wilhelm Cörper in Guillaume Coerper und Johann Heinrich Cörper in Jean Henri Coerper. In diesem Zweig des Booser Stammes hat sich diese Namensform dann dauerhaft etabliert, auch als die französische Herrschaft kurz danach zu Ende ging.

 

Die „amtliche Schreibung“

Eine weitere Vorstellung, die in vielen Köpfen zu sitzen scheint, ist die, es habe eine von Amts wegen vorgeschriebene Namensschreibung gegeben.

Auch bei dieser Vorstellung, die wissenschaftlich betrachtet zunächst nur eine Hypothese ist, bietet unser Name hervorragende Forschungsbedingungen.

Sehen wir uns zunächst die Situation in Meisenheim an.

Dort ging man ja um 1810 zur Schreibung „Coerper“ über. Was machte das Standesamt? Ich habe eine Standesamtsurkunde aus dem Jahr 1865 vorliegen, die uns Antwort gibt. Im Urkundentext lautet der Name „Cörper“, während man bei der Unterschrift des Meldenden, des Meisenheimer Pfarrers Fritz Coerper, „Coerper“ liest. Hieran sieht man, dass das Standesamt bis in die Mitte des 19. Jahrhundert an seiner Schreibtradition „Cörper“ festgehalten hat, während auf der Seite des Namensträgers mit genauso großer Beharrlichkeit die Meinung vertreten wurde, dass der Name mit OE zu schreiben ist. Beide Schreibtraditionen bestanden also jahrzehntelang neben einander. Im Endeffekt hat sich dann die Schreibtradition der Namensträger gegenüber der amtlichen Schreibtradition durchgesetzt. Das steht im Zusammenhang mit der gesteigerten Wertschätzung des Individuums.

Erstaunlich, zu welchen Einsichten man gelangen kann, wenn man einen Namen mit hohem Fehlschreibpotential zum Forschungsgegenstand hat!

Ein ganz ähnliches Bild ergibt sich, wenn man Notariatsurkunden unter die Lupe nimmt. Diese findet man beim Notariat Obermoschel, das für Duchroth und Rehborn zuständig war.

Auch hier findet man wieder eine amtliche Schreibtradition, dieses Mal die mit OE anstelle von Ö. Im 19. Jahrhundert schrieb man in Duchroth den Namen mit C, in Rehborn mit K, allerdings in beiden Fällen mit Ö.

Auch hier laufen wieder beide Traditionsstränge neben einander her. Die Namensträger haben sich von der „amtlichen“ Schreibung nicht beirren lassen, sondern sich schließlich durchgesetzt.

 

Namensfestschreibung

In der Literatur, die auf das Thema Namensschreibung eingeht, geistert auch die Vorstellung von einer staatlichen Namensfestschreibung herum, der es zuzuschreiben sein soll, dass sich schließlich eine einheitliche moderne Namensschreibung etablierte.

Hier liegt jedoch ein Missverständnis vor.

Als nach Gründung des Kaiserreichs im Jahr 1876 die Standesämter reichsweit eingeführt wurden, gab es immer noch Gegenden in Deutschland, in denen die Tradition der Vaternamen lebendig war.

Das bedeutet z.B., dass der Sohn Hans eines Mannes mit dem Vornamen Peter Hans Petersen hieß. Dessen Sohn Friedrich hieß dann Friedrich Hansen.

Diese Tradition wurde nun nicht mehr geduldet. Der zu einem bestimmten Zeitpunkt gültige Nachname wurde für die künftigen Generationen festgeschrieben. Das betraf allerdings nur einige Gebiete im Norden Deutschlands.

Die Familien, die ich hier behandle, waren davon nicht betroffen. Es ist unsinnig, die beschriebene Festschreibung mit unserem Namen in Verbindung zu bringen.

 

Allgemeingültigkeit

Ich bin der Meinung, dass die hier am Beispiel unseres Namens gewonnenen Erkenntnisse Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Man kann sie nur gewinnen, wenn man sich Namen mit hohem Fehlschreibpotential zum Forschungsgegenstand macht.

Würde man die oben beschriebenen Hypothesen anhand eines Namens falsifizieren wollen, den nie jemand falschschreibt, so würde man scheitern. Man würde nichts finden! Die Forschung würde ins Leere laufen. Solche Namen sind problemblind. In Bezug auf solche Namen ist es gleichgültig, ob die Hypothesen falsch oder richtig sind.

Zunächst ist die behauptete Allgemeingültigkeit meiner Erkenntnisse nur eine Hypothese, allerdings eine, die es wert wäre, überprüft zu werden. Würde sie sich bestätigen, wenn man sie an anderen Namen zu testen versuchte? Müsste man sie modifizieren oder gar verwerfen?

Auch hieran erkennt man wieder, welches Forschungspotential ein Name wie der hier behandelte besitzt. Man sollte es nutzen!